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Bauteile sicher und effizient auslegen 07.12.2023

Im Zeichen der Energiewende

Mit der Energiewende laufen thermische Maschinen und Anlagen wie Turbinen verstärkt zyklisch statt im kontinuierlichen Dauerbetrieb. Die resultierenden Wechselbelastungen und zusätzlichen Spannungen durch Temperaturänderungen können Risse im Material verursachen, deren Wachstum genau beobachtet und bewertet werden muss, damit Ausfälle ausgeschlossen werden können. Die Erarbeitung der erforderlichen Methoden ist eine der vielfältigen Aufgaben der seit 40 Jahren arbeitenden Projektgruppe W14 ›Hochtemperatur-Rissverhalten‹ der Forschungsvereinigung für warmfeste Stähle und Hochtemperaturwerkstoffe (FVWHT) und der FVV.

Text: Richard Backhaus | Titelmotiv: MPA Stuttgart

Wenig beachtete Säule der Energiewende || Der Anteil erneuerbarer Energien aus Quellen wie Wasser- und Solar- oder Windkraft am deutschen Energiemix wächst kontinuierlich an. Weniger im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht, dass auch die konventionelle Kraftwerktechnik mit Turbinen eine tragende Säule dieser Strategie ist. Denn die Menge der durch Sonnen- und Windkraft erzeugten Energie ist von den Wetterbedingungen und der Sonneneinstrahlung abhängig und unterliegt damit einer hohen Schwankungsbreite. Produzieren Windparks und Solaranlagen weniger Strom als benötigt, ergänzen konventionelle thermische Kraftwerke die Energieerzeugung. Steht mehr Strom aus Sonnen- und Windenergie zur Verfügung als abgenommen werden kann, soll die überschüssige Energie künftig zwischengespeichert werden. Aus elektrischem Strom werden dazu gasförmige oder flüssige Stoffe erzeugt, die sich bei Bedarf wieder in elektrische Energie umwandeln lassen. Auch diese Rückverstromung erfolgt in thermischen Kraftwerken. »Durch die mit der Energiewende einhergehende Einspeisung von regenerativen Energien werden konventionelle Kraftwerke vermehrt zyklisch betrieben, damit verändern sich auch die Belastungen der thermisch beanspruchten Bauteile, beispielsweise in den Turbinen. Dies erfordert eine Nachbewertung von Kraftwerkskomponenten zur Bestimmung der Restlebensdauer in Bezug auf Fehlstellentoleranz, Risseinleitung und Rissausbreitung «, erklärt Dr. Shilun Sheng, Leiter der Projektgruppe W 14 ›Hochtemperatur- Rissverhalten‹ der Forschungsvereinigung für warmfeste Stähle und Hochtemperaturwerkstoffe (FVWHT) und der FVV. Schon seit 40 Jahren beschäftigt sich die Projektgruppe mit der Entwicklung und der Absicherung von Methoden zur Beschreibung der Risseinleitung und des Risswachstums unter Hochtemperaturbeanspruchung in Werkstoffen für den thermischen Maschinen- und Anlagenbau. Von der Projektgruppe wurden bis jetzt 19 geförderte Forschungsvorhaben durchgeführt, zwei Vorhaben sind in der Bearbeitung. »Die Aufgabenstellungen variierten dabei im Laufe der Zeit, orientierten sich jedoch immer am Bedarf der Industrie, denn für uns steht die anwenderorientierte Forschung im Vordergrund «, so Sheng. Aus der Kooperation der Materialprüfungsanstalt Universität Stuttgart (MPA) und dem Institut für Werkstoffkunde (IfW) der Technischen Universität Darmstadt mit der Industrie ist so eine breite Basis an Berechnungsmethoden sowie wertvollen Langzeitdaten für eine Vielzahl von Werkstoffen entstanden. Dazu gehören beispielsweise moderne Stähle und Nickelbasislegierungen mit Grobkornstruktur.

40 Jahre Forschung – Arbeitsschwerpunkte der W 14-Projektgruppe

Ein weiterer Aspekt der Projektgruppe umfasst die internationale Zusammenarbeit, etwa durch gemeinsame Forschungsaktivitäten und Vergleiche im Rahmen des European Creep Collaborative Committee (ECCC). Auf Grundlage des gesammelten Know-hows hat die Projektgruppe im Jahr 2019 einen Technischen Leitfaden für die Bewertung von Kriechrissen in Bauteilen erstellt. »Damit versetzen wir Betreiber, Hersteller und insbesondere nationale Berechnungs- und Service-Dienstleister in die Lage, Studien wie die Nachbewertung der jetzt stärker zyklischen Belastung bei veränderten Nutzungsbedingungen durch die Energiewende wettbewerbsfähig durchzuführen, ohne die Sicherheit eines Weiterbetriebs einzuschränken«, erklärt Dr. Andreas Klenk, Stellvertretender Direktor der MPA.

Aktuell arbeitet die Projektgruppe an einer Erweiterung der für bruchmechanische Analysen und Bewertungen seit Jahren etablierten, aber bisher ausschließlich auf Raumtemperaturanwendungen beschränkten Richtlinie ›Bruchmechanischer Festigkeitsnachweis‹ des Forschungskuratoriums Maschinenbau (FKM), die unter Mitwirkung des IfW im Jahr 2001 erarbeitet wurde. »Im deutschsprachigen Raum existiert derzeit keine Richtlinie, die eine abgesicherte Bewertung des Rissverhaltens unter Kriech- oder Kriechermüdungsbeanspruchungen ermöglicht. Eine Handlungsempfehlung zur Berechnung der Lebensdauer von Komponenten würde Verbesserungspotenziale im gesamten Bereich des Maschinen- und Anlagenbaus eröffnen«, so Dr. Falk Müller, Stellvertretender Leiter des Kompetenzbereichs Hochtemperaturwerkstoffe am IfW.

Eine Zielgruppe der FKM-Richtlinie sind kleine und mittelständische Ingenieurdienstleister, die Aufgaben bei der Auslegung und Überwachung thermischer Anlagen übernehmen, aber aufgrund ihrer Größe keine eigenen Forschungen und Entwicklungen durchführen können. Für die Bewertung von Fehlstellen, sowohl bei Entwicklung und Inbetriebnahme als auch am Ende der Bauteillebensdauer, müssen sie auf Richtlinie zugreifen können, die den Stand der Technik definieren und abbilden. Die FKM-Empfehlung gibt diesen Unternehmen wissenschaftliches Know-how an die Hand, das direkt umgesetzt werden kann, auch wenn bisher nur ein geringer Erfahrungsschatz zur bruchmechanischen Bewertung vorhanden ist. Um sicherzustellen, dass dieser Wissenstransfer ohne Schwierigkeiten erfolgt, ist vorgesehen, Berechnungen von KMU gegen eine Eigenbeteiligung zu bewerten. Eventuelle Schwierigkeiten bei der Übertragung in die praktische Anwendung können so schon vor der Projektumsetzung ausgeräumt werden. Aber auch große Unternehmen profitieren von der FKMRichtlinie, etwa bei der Weiterentwicklung ihrer Maschinen und Anlagen für die thermische Nutzung alternativer Energieträger. »Wasserstoff beispielsweise stellt ganz eigene, spezifische Anforderungen an die Bauteile. Die Erweiterung der FKM-Richtlinie würde die Effizienz der darauf ausgerichteten Entwicklung erhöhen und zur schnelleren und abgesicherten Markteinführung der Anlagen beitragen«, so Sheng. ||

Die FVV forscht gemeinsam mit der FVWHT (Forschungsvereinigung Warmfeste Stähle und Hochtemperaturwerkstoffe) an Langzeitmaterialprüfungen im Temperaturbereich von 450 °C bis 1200 °C. Werkstoffhersteller kooperieren mit Werkstoffanwendern, Herstellern von Energieerzeugungsanlagen und Forschungsinstituten, um das Langzeitverhalten kriechbeständiger Werkstoffe und ihrer Schweißverbindungen zu untersuchen. Im Zentrum des von der FVV gemanagten Forschungsprogramms stehen Hochtemperaturermüdung (W 10), Relaxationsverhalten (W 11) und Kriechrisswachstum (W 14).

Im Fachkreis ›Bauteilfestigkeit‹ des Forschungskuratoriums Maschinenbau (FKM) werden Richtlinien erarbeitet, die Verfahren für Festigkeitsnachweise für Maschinenbauteile beschreiben. Die Forschungsergebnisse der ›W 14‹ fließen dabei in die Richtlinie ein. Durch den Einsatz standardisierter Verfahren im Konstruktionsalltag können Bauteile nach dem aktuellen Stand der Technik sicher und effizient ausgelegt werden.